Gerhard Richter Atlas Bilderreihe als künstlerische Strategie

14.05.2021

Vortrag am

9. Juni 2021, 18.30 Uhr (CEST) 

Medical School Hamburg, University of Applied Sciences and Medical University

halte ich einen Vortrag (online) zum Thema

"Gerhard Richter Atlas. Bilderreihe als künstlerische Strategie". 

In dem Vortrag befasse ich mich mit Gerhard Richters Installation, die er von 1962 bis 2006 in Form von Bildkonstellationen als Bilderreihen konzipiert hat. Es kamen zum Einsatz Schwarzweiss-Fotos, Farb-Fotos, Collagen, Skizzen, Zeichnungen, Farbpapiere. Sie wurden als Konstellationen in Bildertafeln überführt und gerahmt, und ergeben über 700 solcher Bildertafeln. Die Vielfältigkeit der Motive folgt der Varietät des Künstlers Erfahrungen und Reflexionen. Wir finden darunter Familienfotos, Spuren aus seinen künstlerischen Arbeiten, historische Fotografien, Landschaften, Portraits, urbane Räume ebenso wie provokante Körperdarstellungen. Die Installation enthält Spuren eines Zeitlaufs des Lebens, die gesammelt und zunächst archiviert wurden, um sodann in eine Ordnung übertragen, zur Präsentation finden. 

Es wird ein fotografisches Gedächtnis visualisiert, wobei Richter hier Klares und Verschwommenes, mit Farbe Durchzogenes, mit Linien Durchstrichenes, wie auch Farbpaletten-Ordnungen, Geordnetes und Zufälliges dialogisiert. Richter nähert sich hier den Konzepten von "Musée Imaginaire" von André Malraux oder dem Bildgedächtnis im Mnemosyne Bilderatlas von Aby Warburg, narrativ, erzählerisch, aber hier dennoch unvorhersehbar. 

Gerhard Richter "Atlas", Atlas Blatt 1, aus: Gehard Richter "Atlas", hrg. v. Helmut Friedel, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2006.

Das Thema wurzelt in meinen Forschungsarbeiten über die Bilderreihen des Hamburger Kunst- und Kulturwissenschaftlers Aby M. Warburg. Mit dem Konzept der Bilderreihen hat Warburg eine entscheidende Methodik zur Erläuterung seiner komplexen Forschungsarbeit zum Nachleben der Antike und dem Weiterleben und Funktion von Ausdrucksformen entworfen. Warburg hat sich zeitlebens auf die Suche nach den Kategorien der bildhaften Erinnerungsprozesse begeben, wobei im Fokus seines wissenschaftlichen Interesses besondere bildhafte Ausdrucksformen der Antike standen, die sich immer wieder in den jeweiligen Epochen in unterschiedlichen Bildern erneuert manifestieren. Warburg nannte diese Ausdrucksformen "Pathosformeln". Dabei handelte es sich um besonders ausdrucksstarke Gesten und Motivformationen, die im Gedächtnis verankert (eingeprägt) verbleiben, um dann unter bestimmten individuellen und kulturellen Umständen aus dem Gedächtnis abgerufen zu werden und in neue Konstellationen zusammengestellt einem jeweiligen Kontext hinzugefügt zu werden. Diese Erinnerungsprozesse wurden von Warburg am "historischen Präparat" sowohl auf psychologisch-experimenteller Basis als auch historisch untersucht. Die Anordnung dieser Bild-Formationen in Reihen, wobei zum Einsatz kamen vornehmlich Fotografien bildhafter Elemente, Zeitungsausschnitte, aber auch Notizzetteln, Bücher und Kulturartefakte, bildete eine spezifische Methodik, gar eine Forschungsstrategie, die auf eine anschauliche Weise die Funktion des menschlichen Bildgedächtnisses in den Bilderreihen, die meistens auf Bildertafeln montiert worden sind, darlegte.

Die Reihe als Bildgedächtnis wie sie Warburg konzipierte und in Tafelausstellungen präsentierte trat nach Warburgs Rückkehr aus der psychiatrischen Klinik in Kreuzlingen 1924 an die Stelle präzise ausformulierter Texte. Sie waren Begleitung und Zentrum zugleich von Warburgs öffentlicher Präsentationen. Münden sollte diese performativ angelegte Arbeit dennoch in einem Buch, dem Mnemosyne Bilderatlas. Als zweibändiges Werk (Bildertafel Band und Textband) vorgesehen, ist es lediglich in Form fotografischer Dokumentation erhalten geblieben. Die Abschlussarbeiten wurden durch Warburgs Ableben 1929 unterbrochen und daher nicht vollendet. 

Diese kunstästhetische Umsetzung ist eine Methode wie man Geschichte und Gedächtnis visualisieren kann. 

Ausgehend von dem Atlas von Gerhard Richter und unter Berücksichtigung weiterer Beispiele aus der Kunstgeschichte sowie Kunsttheorien von u. a. Nelson Goodman, Michel Foucault oder Benjamin Buchloh, wird in dem Vortrag die Bilderreihe als künstlerisches Konzept und Strategie beleuchtet.

Die Reihung von Bildformationen wurde seit der Moderne insbesondere in der konzeptuellen Kunst zum wesentlichen Strukturmodel künstlerischer Arbeit. Wobei die Reihe als solche keine Erfindung der Moderne ist. Schon in den früheren Epochen der Kunstgeschichte finden sich solche Formationen einem anderen Werkverständnis verpflichtet. In dem Vortrag kommt es insbesondere zu einer Diskussion solcher Prozesse wie Narrativität, Kognition und Verkörperung in Bezug auf die künstlerische Theorie und Praxis.

Gerhard Richter "Atlas": Skizzen (Farbtafeln), Atlas Blatt 278, aus: Gehard Richter "Atlas", hrg. v. Helmut Friedel, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2006.

Teilnahme kostenlos, Anmeldung unter www.arts-and-social-change.de/virtuelle-kurzvortraege/